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Jazz und Larp

Was hat Tollgund-Larp mit Jazzmusik gemeinsam?

 

Es gibt ein paar Grundprinzipien von Improvisationskünsten, die in verschiedensten Genres (Tanz, Musik, Theater) in sehr ähnlicher Weise auftauchen. Dazu gehört unter anderem das Prinzip von Vordergrund und Hintergrund.

 

Hast Du bei einem guten Jazz- (Blues-/Boogey-/...) Konzert mal beobachtet, wie die Musiker sich gegenseitig sozusagen das Zepter in die Hand geben? Häufig grooven sie sich gemeinsam ein und dann übernimmt ein Instrument oder eine Stimme für eine Weile die Führung bzw. den Vordergrund. Manchmal sind es auch zwei Instrumente, die mit einer Art Dialog den Vordergrund bilden. Die anderen fügen sich währenddessen in den Hintergrund ein, sie halten eine stabile musikalische Basis aufrecht, sie bilden die Grundlage, auf der die Solisten voll zur Geltung kommen können.

 

Irgendwann ist das Solo ausgereizt, hat seinen Raum, seinen Flow und seine Höhepunkte gehabt und die Solisten bringen etwas zum Abschluss, ziehen sich wieder zurück, geben Raum für andere. Andere Menschen können und müssen sich jetzt trauen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den Vordergrund auszufüllen.

 

Wenn das gut funktioniert, dann ist sowohl die Musik als auch die achtsame Interaktion zwischen den Musikern ein Genuss für alle Beteiligten und Zuschauenden.

 

Wenn niemand sich traut, sich mal in den Vordergrund zu spielen, dann kommt die ganze Sache nicht richtig in Gang - es bleibt ein zurückhaltender und gleichförmiger Klangteppich. Zu viel Zurückhaltung tut dem Konzert nicht gut.

 

Wenn jemand in Aufmerksamkeit baden möchte, sich in die eigene Solorolle verliebt, den Vordergrund an sich reißt und nicht wieder hergeben will, dann wird diese Person irgendwann zur Nervensäge für alle Beteiligten – und zerstört viel Potential für gelungenes Miteinander.
Zu viel in den Vordergrund treten (bzw. dort bleiben), tut dem Konzert auch nicht gut.

 

All dies ist perfekt übertragbar auf Liverollenspiel.
Eins unserer Grundprinzipien auf Tollgund lautet "Raum geben - Raum nehmen!"

 

Mit anderen Worten sowohl die Bereitschaft und der Mut, sich mit den eigenen Fähigkeiten zu zeigen und einzubringen, als auch die Bereitschaft, im richtigen Moment zurückzutreten, sich in einen Hintergrund einzufügen und anderen auf unterstützende Art Raum zu geben, sind förderlich fürs Spiel. Wenn beides in ausgeglichener Weise zusammenkommt, kann etwas Wunderbares entstehen!

 

Was bedeutet Ausgeglichenheit in diesem Zusammenhang?
Wenn Du in einer Gruppe von ca. 10 Menschen spielst und Du hast die Einstellung "Wenn ich die Hälfte der Zeit mich in den Vordergrund spiele und die andere Hälfte der Zeit anderen Raum gebe, dann ist das ausgeglichen!", dann lohnt es sich, nochmal darüber nachzudenken, zu was es führt, wenn alle genau diese Einstellung haben.

 

Mit anderen Worten: Die Fähigkeit, sich in einen Hintergrund einzufügen, ist natürlich in der Praxis viel häufiger gefragt, als die Fähigkeit sich in den Vordergrund zu spielen.

 

Es geht hier nicht um irgendein exaktes Gegeneinander-Aufrechnen, wer wie viel Raum bekommt. Es ist o.k. und häufig auch im Spiel stimmig, dass es auch Szenen gibt, die in dieser Hinsicht nicht ausgeglichen sind - zum Beispiel Szenen, die von einzelnen getragen werden und viele weitere Menschen eher als Beobachter beteiligt sind.

 

Aber über den Con hinweg, kann es interessant sein, sich selbst ein bisschen zu beobachten: "Fällt es mir leichter, Raum zu geben oder Raum zu nehmen? Hab ich mich schon in mehreren Szenen nicht getraut das Wort zu ergreifen? Oder umgekehrt - hab ich schon in mehreren Szenen vor einer größeren Menschengruppe Raum eingenommen? Kann ich das, was mir schwerer fällt ausbauen?"

 

Aber noch wichtiger ist folgendes: Es ist möglich, die Frage "Was brauche ich?" bzw. "Was kriege ich?" zu ersetzen durch die Frage "Was braucht das Spiel?"

 

Wenn alle sich immer in erster Linie Fragen, "Wie kann ich das Spiel oder die Spielszene bereichern?" dann bekommt Kooperation ein anderes Niveau - und davon profitieren alle durch unvergessliche Erlebnisse.

 

Braucht die Szene gerade jemanden, der den Vordergrund ausfüllt? Würde das das Spiel beleben und weiterbringen? Wenn ja, dann stelle ich mich in den Dienst einer gelungenen Szene, indem ich Raum einnehme.

 

Raum einnehmen ist nicht per se egoistisch; es ist weder grundsätzlich gut noch grundsätzlich schlecht - die Frage ist schlicht und einfach, ob es gerade passt.


Umgekehrt ist auch Zurückhaltung nicht grundsätzlich achtsam oder positiv. Sie kann sogar destruktiv fürs Spiel sein. Sie ist weder grundsätzlich gut noch grundsätzlich schlecht - die Frage ist auch hier einfach, ob es gerade passt – beziehungsweise, was die Szene gerade braucht.

 

Aktiv im Hintergrund

In einer Rollenspielszene einen Hintergrund auszufüllen, ist durchaus auch eine aktive Handlung. Es hat zwar häufig sehr viel mit Innehalten und Wahrnehmen zu tun, ist aber ganz und gar nicht gleichzusetzen mit „einfach nur rumstehen“.

 

Hier kommen wir ein bisschen in den Bereich von Improvisations- und Schauspieltechniken:

 

Es ist möglich, Personen, die gerade im Vordergrund stehen, aktiv zu unterstützen, ohne ihnen dabei das Zepter aus der Hand zu nehmen. Das funktioniert im Prinzip darüber, die Worte oder Handlungen dieser Personen noch größer, noch breiter, noch sichtbarer zu machen. Kurze zustimmende Zwischenrufe sind eine Möglichkeit. Je nach Situation ängstliche, erstaunte oder ehrfürchtige Gesten sind eine andere Möglichkeit. Auch räumliche Bewegung (z.B. jemandem folgen oder jemandem Platz machen, ...) oder Positionierung im Raum (einen Halbkreis vor jemandem bilden, sich hinter jemanden stellen, sich vor jemandem hinknien, ...) kann dazu dienen, eine andere Person noch mehr ins Rampenlicht zu rücken.


Jede Bewegung, jede Körperhaltung und jede Position, die wir einnehmen, hat irgendeine Auswirkung auf die Szene. Das gilt auch dann, wenn wir uns darüber nicht bewusst sind.
Je bewusster wir uns aber darüber sind, desto gezielter können wir auch diesen Aspekt von Ausdruck in unser Spiel integrieren.

 

Fehler riskieren – Entwicklung erlauben!

Seien wir ehrlich zu uns selbst: In der Praxis wird das Ideal vom kooperativen Spiel - mit ausgeglichenem Raum geben und Raum nehmen - mal mehr und mal weniger gut funktionieren. Vielleicht kommst Du mal nicht zum Zuge - vielleicht nimmst Du mal zu viel Raum ein und andere ärgern sich über Dein Verhalten.

 

Grundsätzlich gilt: Riskiere ruhig, Fehler zu machen! Bleib dafür offen, das auch zuzugeben!

 

Das heißt: Bring dich ein, trau dich, experimentiere, mach Fehler, lass dich kritisieren, lerne daraus!

 

Wer sich angreifbar macht, ermöglicht sich selbst und anderen eine Chance für Entwicklung.

 

Wer sich hinter einer Fassade aus vermeintlicher Perfektheit versteckt, blockiert damit genau diese Chance.

 

Aufmerksamkeitslenkung

In der Musik hat das Zusammenspiel von Solisten (Vordergrund) und dem Chor (Hintergrund) eine lange Tradition - zum Beispiel bei Klassischen Konzerten oder in der Oper. Bei Musikformen, die einen höheren Improvisationsanteil haben, sind meist auch die Rollen flexibel.

 

Wer beim Jazz Konzert gerade zum Chor gehört und wer gerade ein Solist ist, ist ein dynamischer Prozess, der miteinander ausgehandelt wird.

 

Im Larp ist die Situation noch komplexer: Wer gerade zum Chor gehört, wer ein Solist ist und wer zu den Zuschauern gehört, ist verschiebbar. Ob und wo gerade eine Art Zuschauerraum oder eine Art Bühnenraum entsteht, wie weit diese Räume sich ausdehnen und wie (un)scharf sie umgrenzt sind, wer in wessen Fokus steht, wer wessen Hintergrund bildet usw. wird von uns gemeinsam durch unsere Aufmerksamkeitslenkung immer wieder zeitweise festgelegt und auch immer wieder neu verhandelt.

 

Aufmerksamkeitslenkung hat immense Auswirkungen auf eine (Gruppen-)Situation. Wo die Aufmerksamkeit hingegeben wird, kann eine Szene völlig verändern, kann sie intensiv oder banal werden lassen. Aufmerksamkeit ist eine ungeheuer große Kraft. Je bewusster wir uns über diese Kraft sind, desto produktiver können wir sie für unser Spiel einsetzen.

 

Indem wir uns gegenseitig bewusst, gewählt und großzügig Aufmerksamkeit schenken, können wir uns enorm unterstützen und eine große Bereicherung für alle Beteiligten erschaffen.

 

Roland

Orga, Wald und Orte

 


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