Ich, Jakob Philipp von Hardenberg, im nördlichen Deutschland geborener Dichter und seit einem halben Jahrhundert Reisender auf der Suche nach Inspiration, bin im Jahre 1825 auch zu den Hawakani-Inseln gekommen. Vorher hatte ich ein paar Jahre in Weimar in Thüringen zugebracht und war dort auch gelegentlich Gast des alten Geheimrates von Goethe. Dessen Empfänge konnten schrecklich steif und langweilig sein, aber wenn der Herr von Goethe einen guten Tag hatte und ihm angenehme Gäste, dann wurde aus einer Audienz ein feucht-fröhliches Gelage. Und 1823 betrank ich mich im Hause Goethe mit einem jungen Komponisten aus Genua, Giacomo Vittorio Palavacini. Ich hatte den Plan, ein letztes großes Drama zu schreiben, er wollte seine erste Oper komponieren, und im Rausch von Wein und Kunst beschlossen wir, unsere Begabungen zu verbinden. Um uns dabei nicht durch die Umgebung ablenken, sondern inspirieren zu lassen, wollten wir zu einem ganz abgelegenen und besonders unheimlichen Teil dieser Erde reisen: zu den Hawakani-Inseln.
Es dauerte dann noch zwei Jahre, bis ich wirklich nach Jamestown kam, dem größten Ort auf jenen Inseln. Und wenig später fand sich auch Giacomo ein. Inspirationen gab es hier mehr als genug. Falsche Hochzeiten, bizarre Todesfälle, abscheuliche Voodoo-Rituale, dramatische Gefechte mit den seltsamen Huntsmen. Aber nichts war so unheimlich wie die Narunen.
Ja, die Narunen. Man hatte mir erzählt, sie seien wohl die geheimnisvollsten Wesen im Moor, durchaus bereit, zu heilen, aber zugleich auf grausame Weise fordernd. Einen Finger oder ein Stück der Seele wollten sie für ihre Hilfe. Nun, obwohl ich nie geglaubt habe, die Grenzen unseres Verstandes oder unserer Vorstellungskraft seien auch die Grenzen der Wirklichkeit, ich dachte doch, die Narunen seien Hexen oder meinetwegen auch weise Frauen. Doch seit ich bei ihnen war, ist mir klar, sie sind weder weiblich noch auch nur menschlich. Waldgeister? Schicksalsspinner? Dämonische? Was weiß ich. Nur, dass sie mächtig sind. Sehr mächtig. Und ganz und gar nicht menschlich.
Die Bewohner der Hawakani-Inseln gehen, wenn überhaupt, nur in größter Not zu den Narunen, wenn nichts anderes ihre Gebrechen heilt. Ich wollte gar nichts von ihnen erbitten, wollte sie nur sehen, denn mir schwebte eine großartig gruselige Szene für mein Drama vor. In der Hütte der Narunen, mit spektakulärem Bühnenbild, furchterregenden Masken und beeindruckenden Kostümen, und Giacomo Vittorio Palavicini sollte dazu eine wilde und aufwühlende Musik komponieren. Und da ich weiter nichts von ihnen wollte, fürchtete ich weder um meine Finger noch um meine Seele. Als Geschenk nahm ich eine Flasche Wein mit. Ein ganz besonderer Wein. Der Lieblingswein Napoleons. Die Flasche hatte ich mitgenommen, als ich 1821 die Gelegenheit hatte, den ehemaligen Kaiser auf St. Helena zu besuchen – manchmal ist es von Vorteil, wenn ein Vetter preußischer Kanzler war und beste Beziehungen zur englischen Regierung hatte. Aber Napoleon war menschlich eine einzige Enttäuschung, und ich fand, er war den Wein nicht wert. Aber es schien mir doch eine besondere Gabe für die Narunen, auch wenn ich nicht wusste, ob die überhaupt essen und trinken.
Und dann war alles anders als erwartet. Papa Lavaaz, ein in Jamestown lebender Voodoo-Priester, zu dem ich aus der Vergangenheit eine bestimmte Verbindung hatte – aber das ist eine andere seltsame Geschichte – brachte mich über den Geisterpfad zu ihrer Behausung. Die war nun gar nicht eindrucksvoll, ein eher schäbiges großes Zelt, aus dem es freilich wie schweres Atmen und Keuchen klang. Doch ich spürte die unheimliche Kraft dieses Ortes. Aber niemand war da. Papa Lavaaz machte sich gleich wieder davon, und ich setzte mich auf einen Baumstumpf und wartete. Meinen Gürtel mit den Pistolen und dem Dolch hängte ich an einen Ast, obwohl wieder Huntsmen unterwegs waren. Aber ich wollte auf keinen Fall den Narunen bewaffnet und respektlos unter die Augen treten – falls sie denn Augen haben. Und während ich da saß, kamen Worte in mir hoch. Inspiration. Ich nahm mein kleines Notizbuch, Feder und Tinte aus meiner Umhängetasche und schrieb. Wenn dich die Inspiration überkommt,
überlegst du nicht, du lässt es fließen. Ich wusste gar nicht, was ich schrieb, ich schrieb. Als ich wieder zu mir kam, waren die Narunen immer noch nicht da. Ich wanderte zurück nach Jamestown, setzte mich ins Teezelt und schrieb das, was ich in mein Notizbuch gekritzelt hatte, schön säuberlich auf gutes Briefpapier, das sich auch immer in meiner Tasche findet. Dann trank ich einen großen Becher Rotwein und ging, diesmal ganz allein, zurück ins Moor, zum Zelt der Narunen.
Diesmal, das spürte ich sofort, waren nicht nur Geräusche in der Hütte, sondern eine ... eine, ja was? Eine Energie? Ein Willen? Eine Macht? Als ich mich an der Tür verneigte, sah ich zwei Gestalten, hochgewachsen, aber sie schienen mir in Sackleinen gehüllt, keine Kostüme, die auf der Bühne wirken würden. Und ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen, vielleicht hatten sie keine, ich wagte nicht, den Blick zu heben. Vor mir sah ich nur Hände mit langen Fingern und krallenartigen Nägeln. Und diese Hände schienen zu mir zu sprechen. Nein, sie sprachen nicht. Sie hauchten und fauchten mich an. Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber nun war ich schweißgebadet, von meiner Neugier war nichts mehr geblieben. Meinen Wein haben sie wohl genommen, „man kann eine Seele hineinfüllen“, hauchte es. Doch mein Gedicht hat sie wirklich gereizt. „Sag es auf, sag es auf“, und wieder kamen die Worte in mir hoch:
Größer als der Menschen Geiste ist das Geheimnis.
Tiefer als der Menschen Gefühl ist der Schrecken.
Stärker als der Menschen Macht ist der Zerfall.
Weiser als der Menschen Wissen ist das Staunen.
Wahrer als der Menschen Rede ist der Traum.
Die Welt ist nicht Marktplatz.
Die Welt ist ein Wald.
„Ja, ja, darin ist etwas von deiner Seele“, hauchte es, als ich geendet hatte. Seltsamerweise war ich, nachdem ich das Gedicht vorgetragen und es den Narunen gefallen hatte, nicht mehr ängstlich. Ein Dichter, der den Namen verdient, legt immer etwas von seiner Seele in seine Verse. Und das mindert die Seele nicht, es ist eher so, als würde die Seele, mit anderen geteilt, wachsen.
So weit, so gut. Einige Wochen vergingen. Ich saß in der Abenddämmerung vor dem Haus in Upper Jamestown, in das ich mich eingemietet hatte, und leerte den einen oder anderen Becher Rotwein. Mit einem Mal wurde mir ganz kalt, und da war ein Schatten an der Hausecke. Huntsmen, war mein erster Gedanke. Aber bevor ich meine kleine Pistole aus dem Stiefel zog, spürte ich, es war eine Narune. „Dichter, denkst du, du bist Herr deiner Träume? O nein, o nein. Du träumst von mir, sagt die Narune. Und für jeden Traum, den ich dir schenke, für jeden Abgrund, den ich unter dir öffne, will ich ein Gedicht. Du träumst von mir!“
Zu viel Wein, dachte ich. Oder zu viel Fantasie. Aber ich wusste es besser. Und in der Nacht stürzte ich in den Abgrund. Ich war an dem schlimmsten Ort, den ich je gesehen hatte. Waterloo 1815. Ich hatte nicht in Napoleons letzter Schlacht mitgekämpft, dafür war ich schon zu alt. Ich kam am Tag nach der Schlacht nach Waterloo oder Belle Alliance, wie die Preußen sagen. Ich berichtete damals für einige nordamerikanische Zeitungen aus dem aufgewühlten alten Europa. Ich hatte schon Schlachtfelder gesehen, selbst in einigen Schlachten mitkämpfen müssen, freilich waren das eher kleine Gefechte verglichen mit den riesigen Gemetzeln, die Napoleons Herrschaft brachen. Es dröhnten keine Kanonen mehr, keine Kugeln flogen, der Pulverdampf hatte sich verzogen. Aber so weit ich sehen konnte, gemordete, verstümmelte, manchmal noch im Todeskampf wimmernde Menschen. Franzosen, Deutsche, Engländer, Schotten, im Tod waren sie alle gleich. Und dann, ich weiß nicht, wann, ging die
Erinnerung über in den Traum, dann stiegen aus den Leichenbergen weiße Nebel auf - waren es die Seelen, die Seufzer, die letzten Schreie?, - sie stiegen auf zum wolkenverhangenen Himmel. Aber die Erde, nass und feucht von Regen und Blut, sog die Nebel schmatzend ein und zog sie in den Morast. Und dann sah ich zwei Riesen auf den beiden entgegengesetzten Seiten des Schlachtfeldes. Der eine knurrte „Merde“ und spie auf die tausende Toten zu seinen Füßen. Der andere klopfte ein wenig Staub von seinem Frack, ließ sich ein Glas Sherry reichen, und sagte: „How disgusting. I suppose, you will not find an acceptable Sherry in this whole Belgium!“ Und da musste ich mich erbrechen, aber aus meinem Mund kam nicht Wein oder mein Abendessen, ich spuckte Blut, Ströme von Blut, mehr Blut, als in meinem Körper je sein konnte, und ich erwachte schreiend - und ohne ein Gedicht.
Ich fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht, auch Wein und Rum halfen nicht mehr gegen das Gefühl ansteigender Panik. Würden mich nun Nacht um Nacht diese Albträume verfolgen. Da fiel mir ein, dass mir Papa Lavaaz von Träumen erzählt hatte, die ihn immer wieder heimsuchten. Ich mochte den Burschen, obwohl er mir seit dem Voodoo-Ritual nicht mehr geheuer war - aber ich hatte ja nichts zu verlieren. Ich wankte verkatert und übermüdet durch die Gassen von Lower Jamestown und suchte ihn. Und plötzlich standen wir voreinander. „Hey Jakey“, grinste er, „du siehst übel aus. Richtig alt. Fast so alt, wie du bist!“ - „Lass gut sein, Junge“, knurrte ich, „mir ist nicht nach Scherzen. Ich hatte einen fürchterlichen Traum. Und der wird wohl wiederkommen. Ich hab‘ dich gesucht. Du kennst dich doch aus mit wiederkehrenden schlimmen Träumen. Weißt du irgendetwas, das helfen könnte, sie zu mildern? Oder abzuwehren?“ - „Nicht hier auf der Straße“, zischte Papa Lazaav und zog mich in die Metzgerei hinein, in eine stille Ecke dort. Und dann erzählte er mir, man müsse einen Anker finden. „Einen Anker? Was meinst du damit?“ Ein Traum-Anker, erzählte er, sei eine Verbindung zwischen dem Traum und der diesseitigen wachen Welt. Das könne ein Gegenstand sein, den müsse man unters Kopfkissen legen. Es könne
auch ein Mensch sein, mit dem müsse man dann einen Gegenstand austauschen und sich den wechselseitig in der Nacht unters Kissen legen. Dann wäre die Wucht des Traums nicht so mächtig, und man könne sich träumend dagegenstellen.
Ich drückte dem Jungen ein paar Pfund in die Hand und ging zurück. Ein Anker. Und es fiel mir sofort der bestmögliche Anker ein. Capitain Rasiel Chevalier. In einem Gespräch, einem von denen, die offiziell nie stattgefunden haben, hatte er mir erzählt, er sei bei Waterloo dabei gewesen. Nicht als später Besucher des Schlachtfeldes wie ich, sondern als Kombattant. Zum Flankenschutz abkommandiert hatte er die Schlacht aber nahezu unbeschadet überlebt. Doch wie sollte ich ihn dazu bringen, mein Anker zu werden. Unser Gespräch war eher politisch und nicht besonders herzlich gewesen. Und Traumgeschichten würde er gewiss als Spinnerei abtun.
Aber mehr als abweisen konnte er mich ja nicht. Der Capitain saß vor seinem Zelt und nahm ein spätes Frühstück. „Auf ein Wort, mon Captain!“ Er schaute mich eher unwillig an. „Que’est ce que vous voulez, monsieur. Was wollen Sie?“ – „Mon Capitain, wir sind keine Freunde, kennen uns kaum, und Sie schulden mir nichts. Dennoch möchte ich Sie um Hilfe bitten. Um eine Gefälligkeit. Die ist weder mit Gefahr verbunden noch mit großem Aufwand. Nur sehr ungewöhnlich.“ – „Alors, was wollen Sie. Direz moi!“ – „Zuerst noch eine Frage, mon Capitain. Sie sind in Waterloo dabei gewesen, nicht wahr. Träumen Sie manchmal noch von dieser Schlacht!“ Der Capitain schüttelte energisch den Kopf. „Non, jamais, niemals. C’etait une catastrophe pour la France, pas pour moi. Es war fürschterlisch für Fronkreisch, nischt für misch. Wir sind als Reserv an der Flank gar nischt rischtig zum Einsatz gekommen. Isch träume manchmal von Rüssland. Mais de Waterloo? Non, jamais!“ Und dann erzählte ich ihm von meinem Traum und dem Anker, den ich brauchte, und dass er heute Nacht etwas von mir, mein Notizbuch, unter sein Kissen legen sollte, und ich bat ihn, mir etwas von sich für den gleichen Zweck zu geben. Er
starrte mich dann, dann lachte er schallend. „Quelle folie, Monsieur von ’ardenberg, Ihr seid ein Poet wie aus der comedie. Ein Träumär und Spinnär. Wärt Ihr eine ‘übsche Mademoiselle, würde ich gern Euer ‚emdchen unter mein Kissen legen und von Eusch träumen. Aber ich ‘abe pas du tout d’envie, gar keine Lüst, zu träumen von eine alte Mann!“
Meine älteren Brüder hätten, wenn sie noch leben würden, nun sicher Satisfaktion gefordert, aber ich fand Duelle schon immer unerträglich albern. Ich habe in meinem langen Leben häufiger als mir lieb ist zu Degen oder Pistole greifen müssen, aber es ging immer nur ums Überleben, nicht um Rechthaberei und Ehrgefühl. Ein Degen ist kein stichhaltiges Argument, eine Pistolenkugel keine treffende Begründung. Und ich konnte den Capitain ja auch durchaus verstehen. So blieb ich ruhig, war nun aber weniger höflich. „Chevalier, ich habe geahnt, dass Ihr ein phantasieloser Kleingeist seid. Ich sage Euch aber: es geht bei meinem Traum um die Narunen. Und damit auch um Euren angeblichen Auftrag, die Absonderlichkeiten dieser Inseln aufzuklären!“ Er schluckte. „Wollt Ihrr misch beleidigen?“ Ich zuckte die Achseln. „Nur Euer Alter schützt Eusch vor meine Forderüng“, knurrte er, „verschwindät!“ - „Fürchtet Ihr ein kleines Risiko, wenn Ihr dadurch Eurem Ziel erheblich näherkommen könntet? Seltsame Einstellung für einen Offizier. Vielleicht seid Ihr darum nur Capitain geworden und nicht Major wie ich spinnerter Dichter.“ – „Übertreibt es nischt“, stieß er hervor, „verschwindät endlisch!“ Ich lächelte ihn an. Dann entspannten sich langsam seine Züge und auch er grinste. „Eh bien, j’ai compris. Verstehe. Ich wollte misch provozierän. Denkt, Ihr erreischt mit Fresch’eit, was Ihr mit ‚öflischkeit nischt bekommt.“ Ich verneigte mich leicht. „Excusez-moi, mon Capitain, vergebt mir. Und natürlich habt Ihr recht, ein Capitain der Grand Armee hat mehr Erfahrung und Reputation als jeder General kolonialer Milizen. Ihr habt mich durchschaut. Es war ein letzter Versuch! Au revoir“. Ich wandte mich ab. „Lentement, lentement“, rief er, „gebt mir Euer Büschlein und nehmt“ – er sah sich suchend um – „ah, nehmt meine Bayonette. Es war mit in Waterloo.
Mais regardez bien, passt auf, dass Ihr Eusch nischt verletzt, wenn Ihr es mitnehmt ins Bett. Man muss immer gut achtgeben, was man sisch ins Bett ‘olt“. Lachend reichte er mir sein Seitengewehr. „Ich bringe es morgen zurück“, sagte ich, gab ihm mein Notizbuch und eilte heim.
Der Tag verging viel zu langsam, die Stunden krochen. Ich aß zu wenig. Trank zu viel. Ging bei Anbruch der Dämmerung zu Bett, das Seitengewehr des Capitain neben mir. Lange fand ich keinen Schlaf, dann war ich plötzlich wieder auf den Feldern von Waterloo. Sah vor mir, wie der blutige Schlamm mit gierigen Schlünden nach den Seelennebeln schnappte und sie einsog. und ich hörte die Riesen poltern. „Merde!“ „How disgusting!“ Und ich spürte die tiefe Verzweiflung kommen, die mich in der letzten Nacht überwältigt hatte. War so die Welt? Das Leben? Blutiger Morast, in dem alles versinkt? Da wuchs vor mir aus dem Schlamm eine Hand. Mit langen Fingern. Mit krallenartigen Nägeln. Sie winkte mich hinab zum Boden, und ich kniete nieder im Schlamm. „Atme ein, was die Erde verschlingt“, hauchte es, „sonst geht es verloren!“ Und ich öffnete den Mund und trank in vollen Zügen die weißen Nebel, bevor der Morast sie verschlingen konnte. Trank und trank. Aber da war so viel mehr, als ich einatmen konnte. So viel, das der Schlamm verschluckte. Ich konnte nicht mehr. Wieder spürte ist die Panik kommen.
Da packte mich jemand an den Schultern. „Allez, allez, copain!“, rief eine barsche Stimme. „Retirons! Zurück!“ Und ein französischer Offizier zog mich hoch, zog mich mit sich, zog mich vom Schlachtfeld. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Aber ich spürte seine Hand auf meiner Schulter. Und hörte seine Stimme. „Allez, allez, copain.“ Und als ich aufschaute, wuchs Gras über das Feld, am Himmel zeigten sich Lücken zwischen den dunkeln Wolken, und die Riesen waren geschrumpft, sahen aus wie zwei alte Hähne, einer fett, einer mager, die auf und ab hüpften und krähten: „Merde!“ „How disgusting“.
Ich erwachte. Ich hatte keine Worte mitgebracht aus meinem Traum. Doch beim Erwachen wusste ich, was ich schreiben musste. Und ich schrieb mit kalter Wut.
Dann nahm ich das Bajonett des Capitain und die beste Flasche Rotwein aus meinem Vorrat und ging in die Stadt. Der Morgen dämmerte erst, aber wie fast alle altgedienten Soldaten war auch Rasiel Chevalier ein Frühaufsteher und saß schon vor seinem Zelt. Ich reichte ihm das Seitengewehr und die Flasche. „Merci!“, sagte ich nur. „Ihr habt etwas bei mir gut.“ Er sah mich nachdenklich an, nickte stumm und gab mir mein Buch. „Wir räden spätär, au revoir!“ Ich ging nach Friedheim, im FriendsInn erstand ich eine Flasche Sherry, dann ging ich ins Moor zum Zelt der Narunen. „Ich habe euch eine Flasche Sherry mitgebracht“, rief ich am Eingang, „angeblich große Leute pflegen das zu passenden Gelegenheiten zu trinken. Und das ist mein Gedicht.
Waterloo
Hier schlug Wellington Napoleon, doch keiner von beiden,
trug auch nur eine Schramme davon.
Woher dann all die bleichen Knochen? Wer ist hier im Dreck verreckt? Zerfetzt. Erschossen. Abgestochen.
Wem schlug man hier eine tödliche Wunde? Wer erstickte am eigenen Blut
Oder schrie nach der Mutter in letzter Stunde?
Hier schlug Wellington Napoleon.
Doch keiner von beiden
verlor hier ein Bein. Das Leben. Den Sohn.
Lange blieb es still. Was ich mitgebracht hatte, würde den Narunen wohl kaum gefallen. Meine heutigen Worte waren ja nicht so zu mir gekommen wie die des ersten Gedichtes, das ich ihnen vorgetragen hatte, sie waren mit weit mehr Bedacht geformt. Und der Sherry aus der Taverne war eher Fusel als Feinkost,
war fast eine Beleidigung. Doch mehr Seele und mehr Köstlichkeit sollten die Narunen nicht von mir bekommen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gestanden habe. Erst als ich mich umdrehen und gehen wollte, hauchte und kicherte es hinter mir: „Du bist ein Schelm, kleiner Dichter. Aber wisse: die Mächtigen trinken Blut, selbst wenn du glaubst, dass sie Sherry trinken. Und noch lieber als dein Blut ist uns deine Seele. Du denkst, dein Gedicht stammt aus deinem Kopf, nicht aus deiner Seele? Auch dein Denken, auch dein Zorn sind Spiegel deiner Seele. Mit jedem Gedicht gibst du uns etwas von ihr!“ – „Ich löse den Kontrakt!“, rief ich mit dem Mut der Verzweiflung. - „Es ist nicht an dir, kleiner Dichter,“ fauchte es, „zu binden und zu lösen. Wir werden weiter in deinen Träumen sein. Doch nicht immer wird der Traum ein Schrecken sein. Du wirst auch Staunen träumen und Weisheit, Schönheit und Glück. Und dann schreib nieder, was in dich kommt. Und nun geh, eh du uns ermüdest!“
Ich zwang mich, gemessenen Schrittes und mit erhobenem Haupt zu gehen. Ich würde die Narunen wohl nicht mehr loswerden. Aber ich spürte, ich habe eine Waffe, mit der ich ihre Macht zwar nicht brechen, wohl aber begrenzen kann. Der wahre Zauber ist am Ende doch die Poesie.