Geschrieben und eingesprochen von Heinrich Dickerhoff... (IT auf dem Taboo: Jakop Phillip von Hardenberg)
Ich will euch eine seltsame Geschichte erzählen, aber zuerst will ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Jakob Philipp von Hardenberg, ich stamme aus einem so alten wie weitverzweigten, aber leider nicht sonderlich begütertem norddeutschen Adelsgeschlecht. Für nachgeborene Söhne, die nicht den Familiensitz erben, gibt es nur drei standesgemäße Beschäftigungen: das Militär, die preußische Verwaltung oder die kirchliche Laufbahn. Anders gesagt: Stumpfer Kadavergehorsam, Schreibstuben-Langeweile oder scheinheilige Frömmelei. Weil ich nichts davon wollte, versuchte ich mich mit wechselndem Erfolg als Dichter und Schriftsteller. Und nun, am Ende meines langen Lebens angekommen, will ich ein letztes Werk schreiben, es soll heißen: Das Grauen am Ende der Welt. Und weil hoffe, dort weitere Inspirationen zu bekommen, habe ich mich noch einmal aufgemacht zu den Hawakani-Inseln, die wirklich am Ende der Welt liegen und über die ich viel Unheimliches gelesen hatte.
So schiffte ich mich ein, von Amsterdam nach Philadelphia, von Philadelphia nach Nouvelle Orleans, von dort nach Vera Cruz in Mexico, dann über Land nach Guadalajara, wo ich ein Schiff nach San Francisco fand. Dort angekommen war meine Reisekasse fast leer, so suchte ich eine günstige Unterkunft und fand in der Nähe des Hafens die „Madre de Corazon“, die Mutter der Herzen. Vor dem Haus steht eine schäbige Marienstatue mit tränendem Herzen, aber nichts passt weniger zu der Spelunke als diese Figur. In der Madre de Corazon trifft sich der Bodensatz von San Francisco, Mexikaner und Amerikaner, Engländer, Franzosen, Spanier, Seeleute ohne Heuer, desertierte Soldaten, schmierige Händler, kleine Gauner, Glücksritter, Spieler, und natürlich höchst zweifelhafte Damen. Doch das Essen und der Wein sind akzeptabel, ich bekam eine recht saubere Kammer, das alles zu einem günstigen Preis. Und so zwielichtig die Mutter der Herzen auch war, ich war dort kaum in Gefahr. Meine Kleidung und mein Gepäck ließen ganz zu Recht nicht auf Reichtum schließen, mein Alter schützte mich vor Pöbeleien und Prügeleien, und meine Pistolen, die ich durchaus zu gebrauchen weiß, trugen auch dazu bei, mir Respekt zu verschaffen.
Während ich auf eine Passage zu den Hawakani-Inseln warten musste, saß ich Abend für Abend an einem kleinen Tisch in der Ecke der Kneipe und betrachtete das Treiben. Und ab und zu lud ich eine abenteuerliche Gestalt oder eine verlorene Seele ein, sich zu mir zu setzen, mir ihre Geschichte zu erzählen und mit mir meinen Weinkrug zu leeren. Fast vier Wochen war das so, bis ich endlich eine Mitfahrtgelegenheit fand.
An meinem letzten Abend in der Madre de Corazon spielten am Nebentisch vier Männer
Karten. Einer gewann ständig, doch dann wurde er als Falschspieler entlarvt. Die betrogenen Mitspieler stürzten sich auf ihn, verprügelten ihn, nahmen ihm sein Geld ab und warfen ihn auf die Straße. Dann machten sich zwei der Mitspieler davon, der dritte aber, ein blasser magerer Junge, kaum zwanzig Jahre alt, fragte, ob es sich zu mir setzen dürfte, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Er war noch ganz aufgeregt und erzählte mir ungefragt von seinem Leben. In England geboren war er nicht ganz freiwillig Schiffsjunge geworden, dann aber bei einem Aufenthalt auf den Hawakani-Inseln davongelaufen. Zwei Jahre hatte er sich dort aufgehalten. Ich bat ihn, mir mehr von diesem Ort zu erzählen. „Ach“, sagte er, „da ist nichts Besonderes. Fromme Spinner wie überall in Amerika. Korrupte Herren, wie überall, wo England herrscht. Unheimliche und Verrückte, wie überall, wo die Wildnis nah an die Menschen heranrückt. Nur eins ist dort ungewöhnlich, das ist die Flöte der Hawakini.“
Die Hawakini, das wusste ich, waren die dortigen Eingeborenen. Aber von ihrer Flöte hatte ich noch nie gehört. Ich schenkte dem Jungen, er sagte, es heiße Perry, von meinem Wein ein und forderte ihn auf, mir von dieser besonderen Flöte zu erzählen.
„Ja,“ sagte er mit wichtiger Miene, „die Flöte. Die ist nun wirklich besonders. Aber ich weiß nicht, ob ich Euch davon erzählen soll.“ Doch nachdem ich ihm mehrmals nachgeschenkt hatte, erzählte er mir diese Geschichte:
„Als entlaufener Schiffsjunge hast du es nicht leicht. Wenn die Wache dich erwischt, setzen sie dich fest, bis das Schiff zurückkommt. Und die, die ein Dach über dem Kopf haben, sehen in dir nur einen Störenfried und einen, der sie beklauen will. Und die ach so heiligen Flunker geben dir auch eher fromme Sprüche als ein Stück Brot. Ich musste mich verstecken und irgendwie durchschlagen. Also mied ich die beiden Siedlungen und verkroch mich im Moor. Das ist ein grausiger Ort. Gefährliche Hexen sind dort und tollwütige Irre. Aber wenn du dich duckst und klein machst, beachten sie dich nicht weiter. Und eine alte Hawakini, eine der wenigen, die dort leben, ließ mich unter dem Vordach ihres Zeltes schlafen. Sie hieß Waganda, auch sie war halbverrückt und ein Hexenweib. Aber zu mir war sie ganz freundlich. Oft saß sie in ihrem Zelt und sang vor sich hin, sie nannte das: ihren Geist auf die Reise schicken. Endlich wagte ich, sie zu fragen, wohin denn ihr Geist reisen würde. Und dann sagte sie, er suche die Eine Flöte. Erst hatte ich verstanden, der Geist suche eine Flöte.
Und ich konnte in Jamestown einmal eine mitgehen lassen, die schenkte ich der Alten. Aber da machte sie mir klar, dass sie oder ihr Geist nicht eine, sondern die Eine Flöte sucht.
Also eine ganz besondere. Es hatte sie aber doch gerührt, dass ich ihr ein Geschenk gebracht hatte, denn nun erzählte sie mir mehr von der Flöte. Mit dieser Flöte, sagte sie, würden die Hawakani einmal ihre Insel zurückgewinnen und den weißen Schmutz vernichten. Diese Flöte müsse hier im Moor sein, das würde sie deutlich spüren. Aber finden könne sie nur, wer noch keines Menschen Blut vergossen habe. Sie verzog das Gesicht, und mir war klar, an ihren Händen klebte Blut. Es lief mir eiskalt über den Rücken, ich spürte, diese kleine alte Frau war ganz und gar nicht harmlos. Dann sah sie mich nachdenklich an. ‚Was ist mit deinen Händen, Junge‘, zischte sie. Nun, ich bin kein Unschuldslamm, aber ich bin zu schmächtig, um mich zu prügeln, hatte noch auf keinen Menschen mit dem Messer eingestochen, und eine Pistole habe ich nie besessen. Klar, ich hab‘ von Kindheit an geklaut, aber Blut, nein, Blut vergossen habe ich nicht. ‚Dann wirst du meinen Geist tragen und ihm suchen helfen‘, murmelte sie,
und das war keine Frage oder Bitte, das war ein Befehl. ‚Ja, was soll ich denn dann tun‘?, stammelte ich. ‚Du, du musst gar nichts tun. Nur gehorchen. Tragen. Meinem Geist deinen Körper leihen. Deine Sinne. Trink das.‘ Und sie drückte mir einen Tonbecher in die Hand, darin war eine stark nach Kräutern riechende Flüssigkeit. Ich wollte nicht trinken, aber ich konnte nicht anders, ich schluckte das Gebräu herunter - und fiel um.
Als ich wieder zu mir kam, war mir, als wär‘ ich Puppe, die an Fäden hängt. Ich bewegte mich, nein, ich wurde bewegt, ohne das zu wollen, ja ohne zu wissen, was ich tat, ohne zu wissen, warum und wohin. So schwankte und taumelte ich durchs Moor. Es tat nicht weh, aber es war dennoch schrecklich. Ich fühlte mich, als wäre mein Inneres nach außen gedreht. Und ich spürte, ich würde verrückt werden, wenn das noch lange so ging. Dann wachte ich auf unter dem Vorzelt, aber es war kein Traum gewesen.
Am nächsten Abend drückte mir Waganda wieder einen Becher in die Hand. ‚Wir sind gestern weit gekommen,‘ zischte sie. ‚So nah war ich der Einen Flöte noch nie. Heut Nacht holen wir sie!‘ Ich wollte nicht trinken, verzweifelt versuchte ich, Zeit zu gewinnen.
‚Aber was macht die Flöte denn,‘ fragte ich. ‚Soll ich‘s dir sagen,‘ brummte die Hexe. ‚Ach, es kommt nicht drauf an, du wirst es gewiss niemandem verraten.‘ Und sie lachte wieder schrill und gemein, so dass mir klar war, ich würde den Fund der Flöte nicht überleben. ‚Die Eine Flöte‘, hauchte mir Waganda ins Ohr, ‚ist eine Seelenfessel. Ein Seelenjoch. Sie zwingt alle, die ihren Klang vernehmen. Macht sie willenlos. Seelenlos.‘
Na, was denkt Ihr“ – Perry sah mich mit großen Augen an - „hätte ich mich umbringen lassen sollen? Hätte ich ihr helfen sollen, ganz Jamestown zu verhexen? Nein! Ich tat, was ich noch nie getan hatte. Ich zog mein Messer und stieß es der Alten mitten ins Herz. Und dann rannte ich davon, rannte so schnell wie nie zuvor in meinem Leben, rannte nach Jamestown, denn die Wache schien mir eine geringere Gefahr als der Geist der Alten. Und am nächsten Morgen fand ich schon ein Schiff nach San Francisco. Und nun bin ich hier.
„Nun bist du hier“, stimmte ich zu. „Und was wird aus der Flöte?“- Jaja, Ihr habt recht, stieß Perry hervor, wir müssen sie finden. Und zerstören. Oder vielleicht nutzen. Natürlich nicht, um anderen zu schaden. Aber es lässt sich bestimmt Geld damit machen. Ihr seid doch ein klug und erfahren. Wollen wir uns zusammentun und die Flöte holen.“ – „Nun“, meinte ich, „wie sollten wir sie finden. Du hast ja nun auch Blut an den Händen.“ – „Wie ist das denn mit Euch“, fragte er. „Ihr schreibt doch Bücher, sagt man, dann habt Ihr doch sicher nicht getötet. Habt höchstens Tinte an den Fingern.“ – „Ach Perry“, seufzte ich, „ich habe mein Leben nicht nicht in Schreibstuben verbracht. Ich war im Krieg. Auf abenteuerlichen Reisen. Ich bin zum Duell gefordert worden. An meinen Händen klebt mehr Blut als an deinen.“ Perry ließ den Kopf hängen. „Aber hast du denn keinerlei Erinnerungen mehr an die Nacht, als du den Geist der Waganda durchs Moor getragen hast“, fragte ich. - „Ich hatte doch den Zaubertrank getrunken“, gab er niedergeschlagen zur Antwort. – „Aber du musst trotzdem etwas mitbekommen haben“, meinte ich, „selbst wenn dein Geist betäubt war, kann sich dein Körper etwas gemerkt haben“. Perry überlegte angestrengt. „Ja“, rief er dann,“ ja, das Zelt der
Alten war weit im Norden des Moores, und ich bin von dort nach Süden gegangen. Gar nicht so weit. Und da war ein seltsamer Baum, denn habe ich umarmt. Ja, und dann...“
Da schlug krachend die Tür der Spelunke auf, drei Männer stürmten herein, einer von ihnen war der herausgeworfene Falschspieler, und einer seiner Begleiter hielt eine Pistole in der Hand. „Da ist einer von ihnen“, brüllte der Falschspieler und zeigt auf Perry. Der saß mit dem Rücken zur Tür und sah darum nicht, was geschah, auch war er noch ganz in Gedanken versunken. Der Pistolero hob seine Waffe. Ich griff rasch nach meiner Pistole, aber ich war zu langsam, ein Schuss fiel, dann noch einer, und Perry sackte - wie von einem heftigen Stoß getroffen – vornüber auf den Tisch, auf dem sich sein Blut ausbreitete. Er hab den Kopf noch ein wenig und sah mich an, mit letzter Kraft hauchte er: „Die F... F.. Flü ..“ . Ich strich mit meiner Linken, in der rechten hielt ich noch die rauchende Pistole, über seine Wange. „Ruhig, mein Junge, es ist gut. Geh in Frieden, lass alle Hexerei hinter dir. Vergiss die Flöte. Hörst du nicht, jetzt spielen die Engel für dich.“ Er lächelte schwach, schloss die Augen, sein Kopf sackte herab – und er war tot.
Nun, auch sein Mörder lag tot am Boden, und dessen Kumpanen wurden von den Gästen der Madre de Corazon gepackt. Sie mochten in den Augen der feinen Gesellschaft nur Gesindel sein, aber auch sie hatten ihre Ehre. Und das einem von ihnen in den Rücken geschossen wurde, das nahmen sie nicht hin. Der Wirt wurde zum Richter, all die Trinker und Huren zu Geschworenen, und das Urteil war schnell gesprochen. Noch in der gleichen Nacht wurden die beiden Verurteilten an einem Straßenbaum gehängt.
Ich zahlte meine Zeche, gab meine restlichen mexikanischen Münzen in den Topf, mit dem für Perrys Begräbnis gesammelt wurde, und schiffte mich in aller Frühe ein nach Jamestown. Aber ich habe mir vorgenommen, Perrys Geschichte zu überprüfen. Vielleicht war es ja nur Seemannsgarn. Vielleicht wollte er sich nur etwas erzählen, solange noch Wein im Krug war. Aber vielleicht hat er wirklich geglaubt, was er mir erzählt hat. Vielleicht ist es sogar tatsächlich geschehen. Vielleicht liegt irgendwo im Taboo-Moor eine Flöte, die nicht in die falschen Hände geraten sollte.