EIN SCHATTEN MACHT NOCH KEINE NACHT
Ein markerschütternder Schrei riss Jore aus seinem Schlummer, woraufhin dieser sogleich mit
dem Kopf an ein paar hängende Pfannen stieß. Unter einigem Scheppern richtete sich der junge
Küchenhelfer auf und rieb sich die Stelle an der Stirn, die in wenigen Stunden eine pralle Beule
tragen würde – da war er sich sicher. Fluchend versuchte der Junge die immer noch wild
klimpernden Pfannen zu beruhigen, während sich seine Beleidigungen an das Universum in neue
Höhen schraubten.
Gerade als er bei „Drecksmetallgedönse“ angekommen war, ließ ihn ein genervtes Grunzen
herumfahren: Jasner, Jores Tante, schielte ihn unter ihrem speckigen Strohhut hinweg an, welchen
sie sich wie üblich für ihren Mittagsschlaf tief ins schweißige Gesicht gezogen hatte. Wenn Blicke
hätten töten können – Jore wäre bereits zum Tee bei den Narunen.
Der Junge lächelte entschuldigend und ließ nun von den Pfannen sowie dem Fluchen ab. Seine
Tante nickte daraufhin zufrieden, zog wieder an der Krempe ihres Hutes – genau dort, wo schon
unzählige gleicher Handlungen einen dunklen Rand hinterlassen hatten – und setzte ihr
Nickerchen fort. Doch Jore, immer noch aufgebracht von dem Schrei und dem Pochen auf seiner
Stirn, dachte gar nicht ans Schlafen. Auch nicht an den Eintopf, an den er sich so langsam für
seine Feuerstelle hätte setzen müssen. Schnibbeln war so viel langweiliger als Schnüffeln ...Und genau das würde er jetzt tun.
Denn geschrien wurde auf dieser vermaledeiten Insel oft, vor allem im Wald und in Jamestown.
Aber nicht in Friedheim, wo er und seine Tante vor nur wenigen Tagen ihr Lager aufgeschlagen
hatten: Hier konnte man in Ruhe unter dem Sonnensegel der Arbeit nachgehen, ohne
aufgeschnitten zu werden. Zumindest tagsüber. Nachts musste man auf zersplitterte Wein- und
Bierflaschen aufpassen, während ausgelassen auf den Tischen getanzt wurde – aber viel mehr
auch nicht. Zumindest schien es so. Auch wenn Jore in seinem jungen Leben bereits genug
gesehen hatte, um der Ruhe nie vollends zu trauen ...
Er schnappte sich das am wenigsten versiffte Spültuch, band es sich um den wummernden Kopf
und ging zwischen den Zelten los, auf der Suche nach dem Schreihals. Und gleich nach den
ersten Schritten wurde die mittägliche Ruhe wieder durch einen Ruf gestört. Dieses Mal aber
mehr wie ein Brunftschrei, den kannte Jore gut, wie die Kühe auf den Weiden auf der anderen
Seite dieses gruseligen Waldes ihn machten. Nun keckerte jemand und Jore korrigierte seine
Schritte in Richtung der Flunker-Kirche, von wo er die Geräusche vermutete.
Als der Junge zwischen zwei Zelten hervortrat, blieb er sogleich aufgrund des bizarren Anblicks
stehen. Denn Jore kannte Predigten und Gottesdienste zur Genüge; war auf seinen Reisen von
seinter Tante immer und immer wieder in verschiedenste Glaubenshäuser gezerrt worden. Und da
war es egal gewesen, welche Kirche denn nun genau: Hauptsache beten, still sitzen und zuhören.
Und manches Mal etwas sagen oder singen. Sogar oft aufstehen und wieder hinsetzen war dabei
gewesen. Aber das hier?
Vor der Flunker-Kirche inmitten Friedheims waren im Freien einige Reihen aufgebaut worden,
sodass die Messe im warmen Licht der Mittagssonne gehalten werden konnte. Ganz vorne stand
eine kleine, behelfsmäßige Kanzel, hinter der gerade ein Mann in schlichten Roben wilde
Bewegungen machte, während die Menge auf ihren Bänken johlte. Dann stand eine ältliche Frau
auf, stellte sich inmitten des Ganges, der auf die Kanzel mit dem Mann zuführte, blickte sich
vielsagend um und „kickerikiete“ aus vollem Halse.
Jore ging langsam näher, um sich das Spektakel besser anschauen zu können ...
*
»Kickerikiiiii-kikikiiiii! Wirklich, ich schwör’s euch! Alle beisammen, wie ihr da sitzen tut! Mein Hahn,
der kann’s! Da bleibt keine Henne unglücklich. Das isses! Das Krähen am Morgen!«, die alte Frau
stemmte sich die von der harten Arbeit gezeichneten Hände in die knorrigen Hüften und blickte
keck den Pater an, welcher ihr von der Kanzel aus freudig entgegen strahlte.
»Und kein Hahn!«, echote ein anderer, der seinen Sitznachbarn liebevoll knuffte. Die Menge johlte.
Der Pater gluckste und erhob die Hände, wodurch seine Zuhörenden sich allmählich beruhigten.
Aus dem Augenwinkel sah er einen Jungen, vielleicht nicht älter als zehn Jahre, welcher sich
langsam näherte, um dann in gebührendem Abstand wieder stehen zu bleiben.
Der Pater, auf den schlichten Namen Johann hörend, fuhr fort, während sich die Frau wieder
setzte: »Genau das meine ich! Schaut ins Tierreich, in die Natur – von mir aus ins Glas!«, die
Anwesenden röhrten. »Ihr
findet die Liebe überall. Und wenn sie euch einmal versagt, dann geht
sie suchen! Sie ...«, der Pater zeigte unvermittelt aber freundlich auf einen Mann mittleren Alters in
den vorderen Reihen. Dieser zuckte zusammen und zeigte unsicher mit einem wulstigen Finger
auf sich selbst. Pater Johann nickte: »Genau Sie: Was bedrückt Sie? Sagen Sie es uns – keine
Scheu! Sagen Sie’s im Lichte dieses wunderbaren Tages!« Der Pater wies auf die strahlende
Sonne und kam dann hinter der Kanzel hervor, nur um sich sogleich mit einer halben Pobacke auf
eben jene zu setzten. Er schaute den Mann mit ehrlichem Interesse an und lächelte wieder
aufmunternd.
Der Mann druckste einen Moment vor sich hin und lief rötlich an. Dann murmelte er, mehr in
seinen buschigen Bart hinein als zu den anderen: »Ich – Ich hab vor Tag’n all mein Geld verspielt.
Alles weg. Ja, so war’s gewesen ...«
Der Pater sprang unvermittelt von seiner Kanzel auf, sodass die Laterne, die er sonst immer bei
sich trug und nun seitlich daran hing, gefährlich hin und her schwang. Dann klatschte er in die
Hände, dass es bis zum Wald hallte, und stellte sich inmitten des Ganges zwischen seine Schafe.
»Wem und wer ging es nicht auch schon so? Dass wir uns an einem Punkt in unserem Leben
befinden, wo wir am liebsten direkt zu den Mad Faces gingen? Oder den Narune unsere Seele
gäben?«
Gemurmel und vereinzeltes Nicken.
Der Pater fuhr fort, nicht ohne zu bemerken, dass der Junge nun noch ein paar Schritte näher
gekommen war und jetzt beinahe hinter der letzten Bank stand: »... Dass wir das Gefühl haben,
nicht mehr wir selbst zu sein? In der Dunkelheit sitzend, die droht, uns von innen her
einzunehmen.«
Der Kopf des Mannes, der sein Geld verspielt hatte, sank noch tiefer.
»Doch wisset!«, und der Pater drehte sich schwungvoll um, »Ein Schatten macht noch keine
Nacht! Lasst euch nicht durch diese Rückschläge ausmachen! Ihr seid mehr!«
Wieder Nicken und vereinzelte »Ja!« unter den Anwesenden.
»WIR sind mehr!« Der Pater stand nun wieder vorne, direkt vor der Kanzel, und breitete die Arme
aus: »Unter dem Licht sind wir alle gleich! Und gemeinsam können wir diese Schatten vertreiben,
die sich wie eine Wolke vor die Sonne schieben!« Pater Johann zog einen kleinen Beutel aus den
Untiefen seiner Roben hervor und präsentierte ihn der Menge. »Heute geht es nicht um diese
Dunkelheit. Heute geht geht es um den Weg hinaus ins Licht! Und wir helfen dabei – wir ALLE!
Lasst uns gemeinsam etwas Kleines geben – egal was! Sei es ein Schein, eine Münze, ein offenes
Ohr oder eine Umarmung! Lasst uns für diesen Herren sammeln, auf dass er wieder auf die Beine
kommt!«
Der Pater war nun wieder zwischen die Reihen getreten und hatte von den ersten ein paar
Scheine und wertvolle Kleinigkeiten klimpernd eingesammelt. Doch dann zog er den Beutel etwas
zurück und drehte sich gut sichtbar für alle zu dem Mann um, welcher ungläubig dabei zusah, wie
Wildfremde für ihn Geld gaben.
»Zu einer Bedingung!«, der Pater drehte sich langsam um die eigene Achse, sodass ihn auch
wirklich alle hörten. Sein Blick war ernst und einnehmend. »Wer nimmt, hat zu geben! Jeder und
jede, die Ihnen heute helfen, denen werden auch Sie einst helfen! Halten Sie jeden Shilling in
Ehren als wäre es der erste Sonnenstrahl am Morgen! Denn jede noch so kleine Aufmerksamkeit
kann ein Leben verändern. Also gebt, um eines Tages zu nehmen! Wer weiß, wer er einst wird?
Der neue Bürgermeister von Jamestown?!«
Die Menge lachte und klatschte.
»Anführer des Handelskontors?!«
Die ersten jubelten und pfiffen.
»Oder gar ... der Bezwinger der MAD FACES?!«
Die letzten Worte brüllte der Pater fast frenetisch und die Anwesenden stimmten jauchzend mit
ein. Geld und Schmuck
flogen in den Beutel und die ersten Personen rückten dem Mann immer
näher, der fröhlich beschämt vor sich hingrinste.
Dann drehte sich der Pater um, mit einem Gabenbeutel voller Kostbarkeiten – weit mehr als er an
einem normalen Tage gesammelt hätte – sei es auch für die Kinder der Insel. Er drückte die
Spenden dem Mann in die Hand und lächelte. Dann drehte er sich wieder der Gemeinde zu und
breitete typisch die Arme aus als würde er sie alle umarmen wollen: »Ihr gabt etwas Kleines und
werdet noch Größeres erfahren! Sucht die Liebe und werdet gefunden. Für Licht und Leben!«
»Für Licht und Leben!«, skandierte die Menge zurück und einige klatschten wieder.
»Und nun fort mit euch! Ich will euch euer Tagwerk verrichten sehen – und heute Abend trinken
wir auf den zukünftigen Bezwinger der Mad Faces!« Der Pater zeigte ein letztes Mal auf den
Mann, der nun von zwei kräftigen Menschen geschultert wurde.
Unter Lachen, Jubel und Klatschen wurde dieser davongetragen und auch der Rest der
Anwesenden dünnte sich langsam aus. Nur der Junge blieb stehen, weiterhin direkt hinter der
hintersten Reihe verharrend.
*
Jore hatte noch nie eine solche Messe gesehen. Noch nie so viel Freude, Lachen und Liebe. Und
er hatte noch nie gesehen, wie sich ein Pater heimlich Geld aus der Kollekte einsteckte ...
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, p
flegte seine Tante immer zu sagen. Nur dass es sich bei dem
Pater sicherlich nicht um das erste Mal handelte, dass er mit einer
fließenden Bewegung die
Scheine in seinen Roben verschwinden ließ – so, dass es niemand bemerkte. FAST niemand ...
Der Pater sah von seiner Laterne auf, die er nun wieder wie gewohnt in die Hand nahm. Er
lächelte dem Jungen
flüchtig zu und ging langsam von dannen.
Und Jore lächelte zurück.
Ja, Friedheim war der richtige Ort für ihn, dachte der Junge bei sich. Nicht nur Schnibbeln,
sondern auch Schnüffeln. Und sein Aufenthalt hier hatte gerade erst begonnen ...